Im Kreuzfeuer der Kritik
Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert
ISBN/EAN: | 9783593510392 |
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Sprache: | Deutsch |
Umfang: | 556 S. |
Einband: | kartoniertes Buch |
Erschienen am
17.01.2020
Ob Gewerkschaften, Unternehmen oder Parteien: Organisationen prägten die Geschichte des 20. Jahrhunderts ganz maßgeblich. Daher ist die Beschäftigung mit diesen - oftmals umstrittenen - Gebilden und ihren Hervorbringungen einer der Schwerpunkte zeithistorischer Forschung. Gerade in Deutschland erlebte die Geschichtsschreibung zu Organisationen durch die Aufarbeitung möglicher NS-Kontinuitäten in Behörden oder Ministerien einen bemerkenswerten Boom, dem bisher allerdings eine übergreifende Selbstreflexion fehlt. Anhand prägnanter Beispiele diskutiert dieser Band erstmals grundlegende Probleme bei der Analyse von Organisationen im Schnittfeld von Sozial- und Geschichtswissenschaft.
Marcus Böick ist Akademischer Rat an der Professur für Zeitgeschichte der Universität Bochum. Marcel Schmeer ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Aus dem toten Winkel ins 'Kreuzfeuer der Kritik'? Organisationen in der zeithistorischen Theorie und Praxis Marcus Böick und Marcel Schmeer Organisationen: Praktisch sind sie überall, theoretisch aber nirgendwo. So könnte man, sicher zugespitzt, den derzeitigen Reflexions- und Diskussionsstand weiter Teile der deutschen Zeitgeschichtsforschung zur Organisationsgeschichtsschreibung beschreiben. Organisationen bilden in der Praxis eine zentrale Referenz zeithistoriografischen Arbeitens und Forschens: oft als fokussierte Forschungsobjekte, stets auch als wesentliche Produzenten von verwendeten Archivalien und Quellen, fast immer als institutionelle Arbeit- oder Auftraggeber, etwa in Form von Universitäten, Forschungsinstituten, Fachverbänden, Stiftungen und von Museen, Gedenkstätten und insbesondere Archiven. Historiker/innen sind, allem langjährig kultivierten Einzelkämpfertum zum Trotz, durch und durch selbst organisierte Organisationswesen; die Geschichtswissenschaft als wissenschaftlich-akademische Disziplin ist Produkt moderner Organisationsbildungen an Universitäten, Instituten oder in ihren Fachverbänden. Und vielleicht ist es auch gerade diese arbeitsweltlich-professionelle Omnipräsenz des Organisationellen, die in der zeithistoriografischen Theorie insbesondere Organisationen als scheinbar unhinterfragte Selbstverständlichkeiten weitgehend zum Verschwinden bringt - und dies aller theoretischen Debatten um immer neue methodische Trends und 'turns' zum Trotz. Aber warum ist das so? Es ist durchaus mehr als ein semantisches Glasperlenspiel, dass die deutschsprachige Geschichtswissenschaft - im markanten Gegensatz zur hiesigen Soziologie - nie trennscharf zwischen Organisationen und Institutionen zu unterscheiden pflegte und pflegt. Während die Begriffe im zeithistorischen Feld weitgehend synonym gebraucht werden, differenziert die Sozialwissenschaft sehr trennscharf zwischen Organisationen als genuin moderner Sozialform mit spezifischen Funktionen und benennbaren Strukturen (wie etwa Mitgliedschaften, Zwecken oder Hierarchien ) einerseits sowie Institutionen andererseits Diese werden als der bewussten Reflexion entrückte 'soziale Tatbestände' begriffen, die ihrerseits als übergeordnete gesellschaftliche Normen scheinbar überzeitliche oder gar universelle Gültigkeit beanspruchen. Der Verwaltungsexperte Wolfgang Seibel hob diese fundamentale Unterscheidung plastisch hervor: 'Organisationen (.) werden vor unseren Augen gegründet, und sie können, wenn sie sich als relativ oder absolut unzweckmäßig erweisen, verändert oder auch wieder aufgelöst werden. Mit institutionalisierten sozialen Strukturen verhält es sich grundlegend anders. Sie treten uns zunächst als quasi-gegenständlich gegenüber, und sie können auch nicht von heute auf morgen geändert werden, selbst wenn starke Veränderungsimpulse in der Gesellschaft dies nahelegen.' Für Seibel erscheint die staatliche Verwaltung als nachgerade klassisches Paradebeispiel für eine (moderne) Organisationsform, Familie oder die Ehe hingegen als klassische Institutionen - eben als jene umfassend akzeptierten sozialen Tatsachen, über deren 'Sinn' man - wie schon Emile Durkheim in den Anfängen der wissenschaftlichen Soziologie herausgearbeitet hat - nicht tagtäglich grundlegend reflektieren müsse oder gar könne. Die kategorische Differenzierung zwischen Organisationen und Institutionen ist auf diese Weise wesentlicher Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Organisationsforschungen, der diese als Forschungs- und Analysegegenstände greifbar werden lässt. In der geschichtswissenschaftlichen Theorie und Praxis spielt diese kategorische Unterscheidung bezeichnenderweise keine nennenswerte Rolle. Man könnte auch sagen, dass sich Organisations- und Institutionenbegriff in der zeithistorischen Anwendung oft auf problematische wie bezeichnende Weise miteinander vermengen: Zwar werden Organisationen in zahlreichen Einzelstudien als spezifisch-konkrete Ordnungsprinzipien des Sozialen
Inhalt
Aus dem toten Winkel ins »Kreuzfeuer der Kritik«?
Organisationen in der zeithistorischen Theorie und Praxis 9
Marcus Böick und Marcel Schmeer
I. Organisationsforschung und Geschichtswissenschaft
Umstrittene Organisationen.
Theoriekonzepte, Falltypologien und interdisziplinäre Forschung 69
Wolfgang Seibel
Kein Dienst nach Vorschrift.
Geschichtswissenschaft und Organisationstheorie 87
Thomas Welskopp
Zur Programmatik einer historisch-soziologischen
Organisationsforschung 103
Rena Schwarting
Der kritische Blick auf sich selbst.
Zur Verantwortung der historischen Zunft in
der Behördenforschung 139
Christian Mentel
II. Organisationen in der Sphäre des Ökonomischen
Umstrittene Konzerne.
Der Umgang deutscher Großunternehmen mit
ihrer NS-Vergangenheit am Beispiel von Daimler-Benz
in den 1980er Jahren 165
Sebastian Brünger
Ein umstrittenes Unternehmen.
Die Debatte über die Lufthansa 1929 und ihre Folgen 195
Lutz Budrass
(Un-)Sicherheitsproduzent und Gefahrensonde.
Die Versicherungswirtschaft und die Kontroverse
über die Atomenergie in den 1970er Jahren 215
Christoph Wehner
Fluss in Sicht. Methodisch-konzeptionelle Herausforderungen
und Möglichkeiten einer Organisationsgeschichte der Emschergenossenschaft und des Lippeverbandes 239
Eva Balz und Christopher Kirchberg
III. Staat als Organisation – Staatliche Organisationen
Der Staat als umstrittene Organisation. Die Verwaltungsreform der Habsburgermonarchie in den 1910er Jahren 263
Peter Becker
Soziologen, Straßenkämpfer, Psychobullen.
Die West-Berliner Polizei als umstrittene Organisation 285
Marcel Schmeer
Der Sozialstaat auf dem Prüfstand.
Ausdeutungen und Narrationen seit den 1970er Jahren 323
Christoph Lorke
Risikoregulierung als soziale Praxis.
Organisationsgeschichtliche Zugänge zur Unfallversicherung 351
Daniel Trabalski
Zwischen Erwartungen und Instrumentalisierung.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde als umstrittene Organisation 379
Markus Goldbeck
Umstrittene Kokarden.
Militär und Militärs zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik 405
Martin Platt
IV. Organisationen jenseits von Wirtschaft und Staat
Die Gewerkschaften.
Ein klassisches Objekt der Organisationssoziologie 437
Knud Andresen
Meta-Organisationen in Zeiten des Wandels. Die »Deutsche Jugend des Ostens« als Gegenstand gesellschaftspolitischer Kontroversen der Nachkriegszeit 453
Anne-Christine Hamel
Parteien(geschichte) in der Krise? 485
Bernd Faulenbach
Die umstrittene Nachfolge des nationalsozialistischen Deutschen Alpenvereins in Österreich 503
Gunnar Mertz
Radikale für den Kapitalismus.
Die Objektivisten in New York City, 1962–1968 527
Vojin Saša Vukadinovi?
Autorinnen und Autoren 551
Dank 555