Der Narr spricht: Es ist kein Gott von Dorothea Weltecke - Taschenbuch

Der Narr spricht: Es ist kein Gott
Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Campus Historische Studien 50, Campus Historische Studien 57
ISBN/EAN:  9783593391946
Sprache: Deutsch
Umfang: 578 S.
Einband: Paperback
Bis heute gilt das Mittelalter als Zeitalter des Glaubens, in dem Menschen, die an der Existenz Gottes zweifelten, systematisch verfolgt wurden. Dorothea Weltecke weist nach, dass diese Annahme ein Mythos ist, der in der Neuzeit entstand. Sie untersucht die Verwendung der Begriffe "Unglauben " und "Zweifel" in den zeitgenössischen Schriften und belegt: Der Gedanke, dass Gott nicht ist, existierte durchaus. Er wurde in der Beichte geäußert und in der spirituellen Literatur beschrieben. Allerdings waren es nicht, wie oft angenommen, vorrangig die Intellektuellen, die an der Existenz Gottes zweifelten. Denn da der Atheismus theologischen und philosophischen Grundannahmen widersprach, nahmen die Gelehrten ihn lange Zeit nicht ernst. Diese beiden Befunde - dass der Unglaube schon im Mittelalter existierte, aber keineswegs eine Sache der Gelehrten war - eröffnen einen gänzlich neuen Blick auf das Mittelalter wie auf die Geschichte des Atheismus.
Dorothea Weltecke, Dr. phil., ist Professorin für die Geschichte der Religionen und des Religiösen an der Universität Konstanz und arbeitet dort im Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration".
In seinen Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-Östlichen Divans behauptete Johann Wolfgang von Goethe: "Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens." Was meinte er mit diesem Satz? Im Alltagsgebrauch besagt der Begriff "Unglauben" heute nicht mehr, als dass jemand von der Tatsächlichkeit einer Sache nicht überzeugt ist. Im religiösen Zusammenhang kann damit gesagt werden, dass jemand nicht davon überzeugt ist, dass Gott existiert. Nur würde man dafür die Wörter "Atheismus" oder "Agnostizismus" bevorzugen. Hinter der alltäglichen Selbstverständlichkeit der Begriffe verbirgt sich offenbar eine unerwartete Mehrdeutigkeit. Wie aus dem Kontext hervorgeht, meinte Goethe mit diesem Satz gerade nicht den Konflikt zwischen Atheismus und Religion. Er verstand unter "Unglauben" ein kultisches, gesetzliches Glauben, das er als Ritualismus ohne innere Beteiligung empfand. Mit "Glauben" hingegen bezeichnete er eine innere Haltung, die ihr Recht und ihre Würde unabhängig von kanonischen Offenbarungstexten und kirchlichen Regeln gewinnt. Nur etwa 200 Jahre später ist Goethes Satz missverständlich. Es wäre heute unmöglich, das, was Goethe hatte sagen wollen, mit diesem Begriffspaar auszudrücken. Damit sieht es nicht so aus, als sei der Begriff "Unglauben" für geschichtswissenschaftliche Forschung besonders einfach zu gebrauchen. Gleichzeitig war das Wort in der lebenswirklichen Praxis immer eine wichtige Kategorie. Die Unterscheidung zwischen Unglauben und Glauben sowie zwischen Ungläubigen und Gläubigen war für alle Gesellschaften des Vorderen Orients und Europas sogar ein äußerst geschichtsmächtiges Element. Sie hat bis in die Gegenwart Kriege verursacht, Gesellschaften zerstört und Kulturen befeuert. Seit der Antike wird die Unterscheidung zwischen Glauben und Unglauben vorgenommen. Dabei werden mit "Unglauben" bis in die Neuzeit in den monotheistischen Kulturen regelmäßig alle Formen des Glaubens, Nichtglaubens, Denkens und Lebens bezeichnet, die aus einer Gesellschaft ausgegrenzt sind oder werden sollen. Christen, Muslime, Juden, Häretiker, Agnostiker, Freidenker und so fort - alle sind "Ungläubige", je nach Perspektive. Die Entscheidung darüber, was ungläubig ist und was nicht, unterliegt dabei nur scheinbar den Gesetzen der Macht. Vielmehr kann dieser Begriff immer auch kritisch von einer Opposition vorgebracht werden, wird echter Glauben im Gegensatz zu scheinheiliger Amtsreligiosität und bigotter Herrschaft geltend gemacht. Im lateinischen Mittelalter bezeichnete das Wort infideles "Ungläubige" im Sinn von Nichtchristen, wie Juden, Muslime, ferner Häretiker, aber auch "Treulose", "Verräter", pflichtvergessene Herrscher, selbst Päpste. Dagegen scheint es, als hätten mittelalterliche Gesellschaften für die totale Negierung der Existenz eines Gottes keine eindeutigen Begriffe besessen. Nur dieses Phänomen, nicht ein allgemeiner "Unglauben" oder bestimmte Theorien, sei es die Leugnung der Unsterblichkeit der Seelen oder die Vorstellung von der Ewigkeit der Welt, soll hier untersucht werden. Dafür ist das Wort "Unglauben" nicht präzise genug. Das alltagssprachlich vertraute Wort "Atheismus" erweist sich bei näherem Hinsehen als ähnlich ungenau und als noch umstrittener als "Unglauben". Daher werden mit diesen Begriffen hier nur die Unglaubens- und Atheismusforschung und die dort vorgebrachten Thesen bezeichnet. Das Wort "Atheismus" ist im mittelalterlichen Latein überdies nicht belegt. Es ist im Unterschied zu "Unglauben" also kein Quellenbegriff. Wenn es aber keinen eigenen Begriff für Gottesleugnung gab, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie im lateinischen Christentum vor dem 16. Jahrhundert nicht denkbar gewesen ist. Dies allerdings wäre ein Irrtum. Thomas von Aquin, der große Theologe des 13. Jahrhunderts, benennt sie, wenn auch, um sie zu widerlegen. Es scheint, als gebe es Gott nicht, sagt er. Einmal gebe es einen Widerspruch zwischen der Vorstellung, Gott sei das unendlich Gute, und der Tatsache, dass es Schlechtes auf der Welt gebe. Daraus ließe sich folgern, dass Gott gar nicht existiert. Weiter sei es wissenschaftlich möglich, alle Erscheinungen auf der Erde auf natürliche Gründe sowie auf die menschliche Vernunft und den menschlichen Willen zurückzuführen. Daher sei es auch nicht notwendig anzunehmen, dass Gott existiert. Im Folgenden bringt Thomas fünf Denkoperationen vor, mit denen er diese Behauptung zu Fall bringen will, die berühmten Quinque Viae. Doch die Denkbarkeit der Annahme, dass Gott nicht sei, ja nicht sein könne, hat er bewiesen. Es scheint zudem, er habe zugleich die tiefsten Vorbehalte gegen Gottes Existenz benannt. Sind es doch gerade diese beiden Argumente, das Unheil in der Welt und die Möglichkeit umfassender naturwissenschaftlicher Erklärungsleistung, die bis heute gegen die Annahme der Existenz eines Gottes vorgebracht werden. Was mit diesen drei Tatsachen anzufangen wäre - ein semantisch amorphes Wort, eine scheinbar fehlende Kategorie für eine vollständige Gottlosigkeit, dagegen die Denkbarkeit der Nichtexistenz eines Gottes im Mittelalter -, das ist bisher nicht bekannt. Wurde Gottes Existenz von mittelalterlichen Zeitgenossen je geleugnet? Noch ist jeder Versuch gescheitert, einen Beweis dafür zu erbringen. Weder Kirchenschelte noch Kirchenferne haben sich als hinreichende Belege für diese Hypothese erwiesen. Wer einen Pfarrer verprügelte, konnte dennoch ein frommer Mensch sein. Wer die Sakramente und die Autorität der Kirche ablehnte oder wer sich um kirchliche Regeln nicht kümmerte, mochte sich durchaus für einen guten Christen halten. Wer nicht an die Offenbarung der Schriften, die Schöpfung aus dem Nichts oder die Unsterblichkeit der Seelen glaubte, musste nicht notwendig mit Gott gebrochen haben. Wer die Hölle für einen schlauen Priesterbetrug und das Fegefeuer für einen finanziellen Trick des Papstes hielt, leugnete immer noch nicht die Existenz eines Gottes. All dies gab es, aber nichts davon erwies sich bei näherem Hinsehen als Beweis für den Gedanken, dass kein Gott ist. Ähnlich unentschieden erscheint die damit verbundene Frage nach dem Glaubenszweifel. Das System Christentum sei zu anspruchsvoll und die mittelalterliche Lebenswelt zu komplex, um keinen Zweifel am Glauben verursacht zu haben, behauptete Robert Swanson. Und natürlich gab es viele Menschen, die von allerhand theologischen Lehren nicht überzeugt waren. Aber Zweifel an der Existenz Gottes wurden bisher nicht sicher nachgewiesen. Man hat zudem immer wieder und durchaus mit Erstaunen festgestellt, dass Zweifel an der Existenz Gottes auch dann nicht belegt sind, wenn man sie mit Fug erwarten sollte, wie bei Katastrophen. Von Ausnahmen abgesehen ist daher insgesamt in der Religionsgeschichte die Annahme verbreitet, dass mittelalterliche Gesellschaften geschlossen als religiös gebunden zu denken sind und dass dies geradezu konstitutiv für sie ist. Den historischen Studien entsprechen Theorien, die in der Sozialwissenschaft und in der Philosophie vertreten werden. Demnach ist zum einen eine Leugnung Gottes vor dem 16. Jahrhundert entwicklungsgeschichtlich gar nicht möglich. Die Menschen dieses Zeitalters hätten Religion nicht radikal in Frage stellen und Gottes Existenz bezweifeln können. Dazu war erst der Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozess der Renaissance und der Frühen Neuzeit notwendig. Diese Epoche brachte zugleich neue Erfahrungen von religiöser Pluralität. Damit ist die These verbunden, dass Atheismus eine europäische Erfindung sei, zu der andere Völker bis in die Gegenwart nie gelangten, weil ihnen intakte religiöse Bindungen diese Möglichkeit verschlossen hätten. Eine andere Theorie lautet, dass es die Leugnung Gottes zu jeder Zeit gegeben habe und zu jeder Zeit geben müsse. Sie mag sich jedoch zu Zeiten so unklar äußern und aus Sorge vor Repression so stark verklausuliert se...
Inhalt Einleitung Kapitel I: Zur Geschichte der Aufklärung und des Atheismus: Wissenschaftliche Strategien und Topoi der Neuzeit 1. "Atheismus": Neue Kontroversen und neue Geschichten 1.1. Polemik und Enzyklopädie in der Frühen Neuzeit 1.2. Historische Forschungen des 19. Jahrhunderts 2. Experimente mit den Begriffen Atheismus und Unglauben in der historischen Forschung des 20. Jahrhunderts 2.1. "Geschichte des Atheismus und der Aufklärung": Die Großprojekte des 20. Jahrhunderts 2.2. Themen und Tendenzen der Philosophiegeschichte der Nachkriegszeit 2.3. Geschichtswissenschaftliche Positionen: Einheit des Mittelalters und Zeitalter des Glaubens? 2.4. Atheismus, Unglauben - Skepsis, Zweifel: Aktuelle Termini der Forschung 3. Zwischenergebnis Kapitel II: Zur Ahnengalerie der Atheismus- und Aufklärungsgeschichte 1. Gottlose Herrschaft 1.1. Der Graf Jean von Soissons und die Inkarnation 1.2. Kaiser Friedrich II. und die Offenbarung 1.3. Der englische Bauernaufstand von 1381 und die Suche nach Ursachen 1.4. Kaiserin Barbara von Cilli (+1451) und die Epikureer 2. Gelehrte Ungläubige 2.1. Thomas Scotus, der Averroismus und der Satz von den drei Betrügern 2.2. Polemik gegen Atheisten in Gottesbeweisen? 3. Auch das Volk kann denken: Aude glaubt nicht an die Transsubstantiation 4. Zwischenergebnis Kapitel III: Auf der Suche nach Konzeptionen des Zweifelns und der Verneinung Gottes 1. Semantische Beobachtungen zu "Unglauben" 1.1. Biblische Termini 1.2. Zum Gebrauch von infidelitas und infidelis im Mittelalter 1.3. Zu "Unglauben" im Deutschen 1.4. Ergebnis: "Ungläubig" ist nicht ungläubig - gegen die historische Operationalisierung von "Unglauben" 2. Semantische Beobachtungen zu "Zweifel" im Mittellateinischen und Mittelhochdeutschen 3. Zur Diskriminationsthese 3.1. Rechtliche Normen 3.2. Dubius in fide infidelis est: Die Verketzerung des Zweifels? 3.3. Abwesenheit von Glauben in Inquisitorenhandbüchern 3.4. Gegenprobe: Das Collyrium fidei von Alvaro Pelayo 3.5. Ergebnis 4. An den Grenzen des Glaubens und darüber hinaus 4.1. Acedia 4.2. "Anfechtung" und "Blasphemie des Herzens": Zweifelnde Einfälle 4.3. "Murmur" und "Impatientia": Protest und Theodizee 4.4. Non est Deus: Sagen, dass es Gott nicht gibt Schluss Verzeichnisse Abbildungen Abkürzungen Handschriften Quellen und Literatur Vor 1800 entstandene Texte Nach 1800 entstandene Texte Dank Personenregister Ortsregister
Eine Geschichte des Unglaubens seit dem Mittelalter
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