Joan Didion | Wie die Vögel unter dem Himmel

Als der Roman 1977 erstmals erschien, kam Joyce Carol Oates in ihrer Rezension für die New York Times zu folgendem Urteil: »Hat der Roman irgendwelche wesentliche Schwächen? Nun, ich hätte ihn mir länger und ausführlicher gewünscht: Ich hätte zum Beispiel gerne mehr über die Tochter erfahren. Aber Joan Didions Kunst lag schon immer in der Untertreibung und der bloßen Andeutung, der zurückgehaltenen Gefühle. Wie ihre Erzählerin ist sie eine wortgewandte Protokollantin der widrigstenen und scheußlichsten Wahrheiten unserer Zeit, eine denkwürdige Stimme, manchmal jubelnd, manchmal verzweifelt, immer aber unter Kontrolle.« Diese Einschätzung ist heute vielleicht noch zutreffender als damals. Joan Didion, die vor allem als Essayistin und Journalstin berühmt und bedeutend wurde, zeichnet sich auch als Romanautorin durch ihre Technik der eleganten Desillusionierung aus, deren stilistische Präzision sie vor Pathos und Prätention bewahrt.

//leseprobe

In mindestens zwei von mehreren unschlagbar euphemistischen »Briefen aus Zentralamerika«, die Charlotte während ihres Aufenthaltes hier verfasste und erfolglos versuchte, an den New Yorker zu verkaufen, beschrieb sie Boca Grande als ein »Land der Kontraste«. Boca Grande ist kein Land der Kontraste. Boca Grande ist im Gegenteil schonungslos »das Gleiche«: die Kathedrale ist nicht im spanischen Kolonialstil erbaut, sondern aus gewelltem Aluminium. Es gibt eine örtliche Währung, aber der amerikanische Dollar ist gesetzliches Zahlungsmittel. Die Politik des Landes scheint zunächst voller Kontraste zu sein, mit dem »bunten« lateinamerikanischen Nebeneinander von guerrillos und Oberstleutnants, aber wenn die Panzer weggeschafft sind und der Flughafen wieder öffnet, hat sich in Boca Grande im Grunde nichts verändert. Es gibt keine bemerkenswerten Wasserfälle, keine interessanten Ruinen, keine eleganten Boutiquen (Charlotte ging so weit, die Ladenfront einer dieser Boutiquen zu mieten, aber mein Sohn Gerardo hat die Ladenfront für seine eigenen Zwecke benutzt, und seit den Oktoberkrawallen ist sie ein Lesesaal der Pfingstgemeinde), die eine aufregende kulturelle Ergänzung zum Voodoo in den Bergen bieten könnten.
Genau genommen, gibt es kein Voodoo in den Bergen.
Genau genommen, gibt es keine Berge, nur flaches Buschland und das reglose Meer.

 

 

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 1/2024 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.

Wie die Vögel unter dem Himmel
eBook - Roman - Der wichtigste Roman der amerikanischen Ikone - ein zeitloser Klassiker
ISBN/EAN: 9783843730730