Nele Pollatschek: Kleine Probleme

Als ich von Nele Pollatscheks Roman hörte, war ich sofort interessiert, denn ich selbst verheddere mich im Alltag oft genug in meinen Gedankenwelten und finde bisweilen schlecht wieder daraus heraus: Kleine Probleme handelt von einem 49-Jährigen, der in der letzten Woche des Jahres versucht, eine lange To-Do-Liste abzuarbeiten. All das, was er in diesem Jahr aufgeschoben hat und noch mehr, will er in wenigen Tagen und zuletzt in wenigen Stunden erledigen. Sein größter Feind ist der innere Schweinehund, den es zu überwinden gilt, er muss "einfach" anfangen, statt nur darüber nachzudenken. Das Handy weglegen und loslegen. Leider ist aller Anfang schwer und so hat ihn das Prokrastinieren, also das chronische bzw. pathologische Aufschieben, überhaupt erst in diese scheinbar ausweglose Situation gebracht, in der er sich befindet.

Vor Jahren ist der Ich-Erzähler Lars mit seiner Frau Johanna in ein Einfamilienhaus gezogen, hat seinen Job gekündigt, weil er sich als Schriftsteller sieht, sein Meisterwerk ist quasi schon fertig; also im Kopf - zu Papier bringt er nichts. Während seine imaginären To-Do-Listen immer länger werden, ziehen die Jahre ins Land. Er wollte doch noch die Kinderzimmerwände bunt streichen, nun sind die Kinder schon groß und seine Frau, dank derer sie überhaupt den Kredit fürs Haus erhalten haben, verbeamtete Lehrerin und Pragmatikerin ist, hat sich ein Jahr Auszeit von ihm und ihrem gemeinsamen Leben genommen. Der Verleger wurde jahrelang immer wieder vertröstet, dass sein Lebenswerk im nächsten Jahr fertig werde, genauso wie das Finanzamt mit der Abgabe der Steuererklärung. Analog dem stets nieseligen Wetter, scheint es in Lars Kopf zu sein, immer ist er in seinen Gedankenwolken verfangen. Was hier so deprimierend klingt, nimmt im Buch Fahrt auf und ist komisch bis zum Schluss, denn der Erzähler will gegen all das regelrecht ankämpfen und seine "Kopf-Johanna" treibt ihn ahn, reißt ihn aus seinen Gedanken. Er will es endlich schaffen und erstellt eine Liste, die so lang ist, dass man sie eigentlich gar nicht schaffen kann. So soll am letzten Tag des Jahres noch ein IKEA-Bett aufgebaut werden, das Haus muss geputzt werden, die Regenrinne muss gereinigt werden, die Steuererklärung abgegeben werden, sein Lebenswerk geschrieben werden und er muss noch einen Nudelsalat zusammenmischen, den er dann an diesem 31.12. um Mitternacht zur Silvesterfeier mitnimmt, wo er auf seinen Sohn, seine Frau und seine Tochter treffen wird. Seine Motivation: Wenn er alle Punkte seiner Liste erledigt, ist alles wieder gut, dann sind seine Kinder zufrieden und seine Frau kommt wieder zu ihm zurück. Der Protagonist kämpft Seite um Seite gegen seine Gedanken an, während in Gedanken schon jeder Punkt seiner Liste ausführlichst durchdacht und erledigt ist, will er, muss er, sich aus seinen Gedanken herausreißen und endlich anfangen und mit jedem Haken, den er auf seiner Liste setzt, fällt es ihm leichter und leichter. All diese Dinge, die erledigt werden, sind alltägliche Begebenheiten, wie sie eigentlich jede*r von uns kennt. Nur werden sie hier literarisch ad absurdum geführt. Zum Beispiel wenn das IKEA-Bett aufgebaut wird, Lars diese eine Schraubenart unter vielen heraussuchen muss und zum Schluss kommt, dass sie viel leichter auffindbar wäre, wenn sie keine Nummer sondern einen Namen wie Henriette Hannelore von Hoffmannsthal hätte.

Der Roman ist nicht nur sehr klug und temporeich geschrieben, sondern auch unglaublich lustig und geistreich. Wenn man als Leserin plötzlich merkt, dass einem die Mundwinkel schmerzen, weil man seit Minuten grinsend und lachend dasitzt. Ein Buch, dass man nicht weglegen kann und ganz unvernünftig bis nachts um drei liest, weil es einen so mit sich zieht. Ein Buch, dass wunderbar komisch geschrieben ist, obwohl, das was passiert und was der Protagonist erlebt, alles andere als komisch ist. Das zeigt aber mal wieder was Literatur und Sprache kann. Sie verschafft uns Einblick in die innerste Gedankenwelt der Menschen. Und wenn man dann dieses Buch beendet hat, möchte man nur noch aus seiner eigenen Prokrastinations-Endlos-Schleife ausbrechen, genauso dagegen ankämpfen, wie der Erzähler, man will das Handy weglegen, im Hier und Jetzt sein, Dinge anpacken und irgendetwas anfangen UND beenden; wie das Schreiben einer Rezension über dieses Buch.

 


 

Titel: Kleine Probleme
Autor: Pollatschek, Nele
Datum der Veröffentlichung: 07.09.2023
Verlag: Galiani Berlin
Sprache: Deutsch
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
ISBN: 9783869712406
Rezensent: Maria Holzapfel
Bewertungsergebnis: 5sterne.png (5/5)
Datum der Bewertung: 03.11.2023