Georgi Demidow | Fone Kwas oder Der Idiot

Im Anhang zum Roman heißt es an einer Stelle: »Es beginnt wie ein Film noir und dann wird es wirklich schwarz« und das trifft den Charakter dieser eindringlichen, weil lakonisch erzählten, Geschichte aus der absurden Hölle der stalinistischen Gefangenenlager. Anders als der Protagonist, gelang es Demidow, seine Gefangenschaft zu überleben. Von umso bitterer Ironie ist der Umstand, dass sein gesamtes literarisches Werk 1980 (!) vom KGB beschlagnahmt wurde. Der Roman dokumentiert gewissermaßen die Schrecken des Gulags, ist aber vor allem ein Beispiel dafür, dass Literatur die vielleicht wichtigste Überlebenstechnik für Menschen ist. — Lesenswert ist übrigens auch der ausführliche Anhang des Buches, der ein biografisches Porträt enthält, sowie zahlreiche Quellenangaben und Erläuterungen.

//leseprobe

Rafail Lwowitsch las mit dumpfem Fleiß die grauen, mit der Schreibmaschine getippten Zeilen auf einem grauen Blatt Papier. Darunter standen sein Name, Vorname und Vatersname in violetter Tinte geschrieben. Unten, nach dem dicker gedruckten »Staatsanwalt«, ein unscheinbares Schnörkelchen. Es war jedoch schwer zu entziffern. Einige Artikel aus dem Gesetzbuch, die mit unverständlichen Buchstaben und Zahlen versehen waren, sprangen ihm vor Augen, schwammen irgendwohin, wechselten den Platz und verhedderten sich in unverständlicher Zierschrift. Wieder und wieder versuchte er, einen sinnvollen Satz daraus zu machen. Der nächtliche Besucher übergab Belokrinitskij ein weiteres Formular – einen Durchsuchungsbefehl. Auch auf diesem Papier hüpften Wörter, Zahlen und Buchstaben herum, und auch der dicke Staatsanwalt tanzte mit seinem Schnörkelchen. […] Das Geräusch der sich schließenden Tür war vermutlich das übliche. Aber Rafail Lwowitsch glaubte, darin das Geräusch einer Axt zu hören, die das Leben der kleinen Familie Belokrinitskij in das zerschnitt, was vor dieser Nacht gewesen war, und in eine unbestimmte Zukunft, die unerklärliche Angst einflößte.

//der autor

Georgy Demidow (1908-1987), ein im Gebiet der heutigen Ukraine aufgewachsener und in Charkow arbeitender sowjetischer Elitephysiker, wurde 1938 verhaftet und im dortigen NKWD-Hauptquartier ein halbes Jahr lang verhört. Er überlebte vierzehn Jahre Gulag an der Kolyma und begann, darüber zu schreiben. 1980 beschlagnahmte der KGB all seine Manuskripte. Demidow starb im Glauben, sein gesamtes Lebenswerk sei vernichtet. Erst nach der Perestroika wurden seine Schriften wieder aufgespürt.

 

 

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 1/2024 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.