Louise Meriwether | Eine Tochter Harlems

... und dieses Buch, weit davon entfernt, ein Melodram zu sein, ist auf brillante Weise zurückhaltend. [James Baldwin]

Stellen Sie sich vor, Toni Morrison und Carson McCullers hätten sich zusammengetan, herausgekommen wäre Louise Meriwether. Wie McCullers zeichnet sich Meriwether durch ihren aufrichtigen, mutigen und doch zutiefst literarischen Stil aus. Vielleicht rührt die unverstellte Gegenwärtigkeit des Erzählten ja daher. Mit Toni Morrison teilt sie die politische Relevanz, die aus der eigenständigen und - ja, hier ist das Wort einmal angebracht - aus der authentischen Darstellung schwarzer Lebenswelten resultiert. Es braucht Mut und Stärke, politisch und literarisch relevant zu schreiben. Louise Meriwether (1923—2023) besaß beides in grösstem Maße.

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Mit angehaltenem Atem sauste ich die Treppe runter. Himmel, was für ein Gestank im Hausflur, alle Gerüche aus Harlem prallten da aufeinander. Gammelnder Müll im Schacht für den Lastenaufzug mischte sich mit gebratenem Fisch. Ein Säufer hatte in eine Ecke Wein erbrochen und in die andere gepinkelt, und die Fäulnis, die aus dem Keller aufstieg, sagte mir, dass da unten irgendwo eine tote Ratte lag. Draußen war die Luft nicht viel besser. Der 2. Juni 1934 war ein heißer, drückender Tag. An den Bordsteinkanten standen lauter vollgestopfte Mülltonnen, die in den Rinnstein überquollen, und der müde Gaul, der den Gemüsekarren hinter sich herzog, hatte gerade mitten auf der Straße einen dampfenden Haufen hinterlassen.    … Ich bog um die Ecke und rannte über die verbotene 118th Street, weil ich zu spät dran war und für den Umweg um den Block keine Zeit mehr hatte. Daddy wollte nicht, dass ich mich hier rumtrieb, wegen der Prostituierten, aber ich wusste wieso über alles Bescheid. Sukie hatte es mir erzählt, und die kannte sich aus. Ihre Schwester, China Doll, war eine Hure und arbeitete genau an dieser Straße. Außerdem wars noch zu früh fürs Huren, Daddy brauchte sich also keine Sorgen machen, dass ich was Verbotenes sehen könnte.   

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 42/2023 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.

Eine Tochter Harlems
eBook - rororo Entdeckungen, rororo Entdeckungen
ISBN/EAN: 9783644017948