Toni Morrison | Rezitativ

Toni Morrison (1931—2019) erhielt als erste afroamerikanische Literatin 1993 den Nobelpreis für Literatur. Mit »Rezitativ« ist nunmehr die erste und einzige Erzählung der Romancier und Essayistin. Sie war 1983 in der Anthologie »Confirmation: Anthology of African American Women« erschienen und 2022 mit einer Einführung von Zadie Smith als Buch neu veröffentlicht. So kompakt wie präzise, so unverblümt wie einfühlsam schildert Morrison die Geschichte der Freundschaft zwischen Twyla und Roberta, die sich - aus unterschiedlichen Gründen vernachlässigt - in einem Kinderheim kennenlernen und ihr Leben lang in Freundschaft verbunden bleiben. Bereits in dieser frühen Erzählung kreist die Autorin um ihr Lebensthema: Wie überlebt das Leben die Gewalt und den Rassismus, die als fundamentale Faktoren die Gesellschaft und ihre Kultur bestimmen.

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Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny’s gebracht. Wenn man erzählt, man war im Kinderheim, wollen einen alle gleich in den Arm nehmen, dabei war es gar nicht so schlimm. Keine großen, langen Säle mit hundert Betten wie im Bellevue. Es gab Viererzimmer, und als Roberta und ich dorthin kamen, waren gerade nur wenige Kinder in staatlicher Fürsorge dort, und wir waren allein auf der 406 und konnten von Bett zu Bett wechseln, wenn wir wollten. Und ob wir wollten! Wir wechselten jeden Abend, und während der ganzen vier Monate, die wir dort waren, entschieden wir uns nie für ein endgültiges Bett. So war es aber nicht von Anfang an. Als ich reinkam und das Riesenross uns einander vorstellte, wurde mir ganz schlecht. Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe!

 

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 15/2023 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.