Iris Wolff | Lichtungen

Iris Wolffs großes Thema ist die Erfahrung einer fremden Existenz in der eigenen Heimat. Als Angehörige der deutschen Volksgruppe erlebte und erlernte sie in Rumänien den Sprachzauber einer polyglotten Welt. Klar, präzise, tiefsinnig und aufrichtig erzählt sie aus den vergangenen Jahrzehnten, mit starken Figuren und Bildern und doch mit grosser Leichtigkeitund Eleganz. 

//leseprobe

Die Fähre zog eine schäumende Gischtspur hinter sich her. Ein weißer Bogen im Blau, der noch lange ihren Weg nachzeichnete. Dieselgeruch, Lautsprecherdurchsagen, vom Wind zerhackt; er war so stark, dass sie sich schräg gegen ihn lehnen konnten, mit aufgeblähten Shirts, flatternden Hosen, Brausen in den Ohren, im Kopf, im Körper. Noch Minuten später, im Inneren der Fähre, war dieses Brausen zu spüren, ein Nachbeben, Nachklang, und Lev dachte unwillkürlich daran, wie Sägeblätter in eigenwillig-summendem Takt nachschwangen, wie der Boden mit einem Mal ruhig wurde, und das Sägemehl, das über der Maschine schwebte, herabfiel – leicht verzögert, verwundert, von der Schwerkraft überrascht. Kalte Luft strömte aus der Klimaanlage, griff nach Händen und Knöcheln, nach Papieren, Steinen, Muscheln, die in ihren Taschen lagen wie angeschwemmtes Strandgut. Kato wickelte einen Schal um ihre Schultern, zog die Beine heran. Lev drehte einen Pinienzapfen in den Händen, er stammte von dem Baum, in dessen Schatten sie zu Mittag gegessen hatten. Kato skizzierte mit schnellen, suchenden Strichen ein Mädchen, das auf dem gegenüberliegenden Sitz eingeschlafen war.

 

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 2/2024 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.