Chava Rosenfarb | Durch innere Kontinente. Ein Lesebuch

Chava Rosenfarb wurde 1923 in  Polen geboren und starb 2011 in Kanada. Dazwischen lag ein Leben aus Gewalt und Poesie. Aus Gewalt, weil sie als Jüdin in den Mahlstrom des nationalsozialistischen Völkermords geriet; aus Poesie, weil sie lebenslang ihre Erfahrung in jiddische Lyrik und Prosa goß und so zu einer der wichtigsten Dichterinnen der jiddischen Sprache wurde. Der Erlanger »homunculus verlag« darf sich nun das Verdienst anrechnen lassen, die literarischen Zeugnisse einer der »bedeutendsten jiddisch-sprachigen Autorinnen der Nachkriegszeit« (Yiddish Book Center) einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Neben einem Vorwort von Prof. Goldie Morgentaler, Rosenfarbs Tochter, enthält das Lesebuch Auszüge aus ihrem Tagebuch aus Bergen-Belsen, aus ihrer Romantrilogie »Der Baum des Lebens«, in der sie die Naziherrschaft und ihr Leben im Ghetto verarbeitet, sowie Gedichte, Essays und Erzählungen, die nach dem Krieg entstanden sind. Als Schriftstellerin habe Chava Rosenfarb, so ihre Tochter, immer darauf gehofft, einerseits der jiddischen Kultur und Sprache ein Denkmal zu setzen, andererseits aber auch die sprachlichen Grenzen zu überwinden, um »in der weiten Welt auf offene Ohren und Arme zu stoßen«.

//leseprobe

Bergen-Belsen, 6. Mai 1945
Wo bist du,
tate? Wo bist du, tate? Heute nehme ich zum ersten Mal wieder den Stift in die Hand. Meine Finger zittern über dem weißen Papier. Wo ist deine warme, sichere Hand, die meine fiebrigen Finger umfasst und ihnen aufs Neue das Geheimnis unseres heiligen jüdischen alef-beys offenbart ... Wie früher, als ich ein Kind war. Deine starken Arme stütz- ten meinen Kopf, dein warmer Atem streichelte meine Wangen. Du hast meine Hand über weiße, saubere Zeilen geführt. »7zte« haben wir geschrieben. Und es ging ein Licht aus von den vier kleinen Buchstaben, als das Wort eine Seele bekam. Als ich in ihnen dein Lächeln entdeckte. »Tate«. Ich sitze am Fenster. Draußen steht ein großer Baum. Seine Äste reichen bis zu uns in den zweiten Stock und noch weiter. Es ist ein Kastanienbaum. Er ist grün von dem saftigen Grün des Frühlings. Er blüht. Ich habe schon so viele Bäume gesehen ... So viele grüne Bäume ... Dies ist der erste Baum, den ich wirklich sehe. Ich will schreiben: »Grüner Baum«, nur hatte er Blätter wie Finger ... Milde, gütige, zärtliche. Deine Finger ... […] Unten, gegenüber meinem Fenster, herrscht lautes Geschrei. Es ist gar nichts. Man teilt Suppe aus. Jeder wird etwas abbekommen. Die Unruhe der Menschen ist keine heutige. Sie ist eine gestrige. Alle wissen, dass niemand ohne ein bisschen Suppe gehen muss. Wenn nicht hier, dann an einem anderen Fenster. Und doch will man als Erstes drankommen. Den Topf mit Suppe in die Hand nehmen und den Löffel hineintauchen. Gegenüber meinem Fenster steht ein Mann. Soeben hat er sich mit seiner Suppenschüssel den Weg durch das Menschenknäuel gebahnt. Er geht nicht zurück in sein Zimmer. Er setzt sich nicht an einen Tisch. An der Steinmauer lehnend löffelt er hastig aus dem Gefäß. Oh, wie hungrig er ist! Seit Jahren schon. Und auch seine Hast dauert schon jahrelang. Er ist ausgemergelt; ein schwerer Mantel hängt an seinen Schultern herab und reicht ihm fast bis an die Knöchel. Zwischen einem Löffel und dem nächsten wischt er sich mit dem abgewetzten Ärmel das Gesicht. Er wirkt abgehetzt. Und zugleich voller Freude. Ich sehe seine Blicke, die vergnügt von seiner Schüssel zu allem tanzen, was um ihn herum geschieht.

 //der homunculus verlag war 2022 Träger des Deutschen Verlagspreises und hat sich der Herstellung besonders schöner Bücher für entdeckungslustige Leserinnen und Leser verschrieben.

 

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 26/2023 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.