Anne Berest | Die Postkarte

In einer beeindruckenden Mischung aus Eindringlichkeit und reportagehaftem Sachbuchstil nähert sich Anne Berest ihrer Familiengeschichte. Ausgangspunkt ist jener Tag im Januar, an dem eine Postkarte, auf der lediglich vier Vornamen stehen, im Briefkasten ihrer Mutter landet. Das Rätsel packt und fesselt nicht nur die Autorin und Berest greift aus bis zurück ins Jahr 1919, das Jahr, in dem ihre Vorfahren das erste Mal die Flucht ergreifen mussten. — Lakonisch im Ton und bestürzend in der Sache gelingt es der Autorin zum einen, die Schrecken des Naziterrors, oder genauer, die Schrecken des Vichyregimes und der Kollaboration schonungslos fühlbar werden zu lassen; zum anderen aber erschließt sie die Erkenntnis, wie ungebrochen, wie erdumspannend, wie fundamental die Judenverfolgung, deren vorläufiger Höhepunkt der Holocaust war, doch nach wie vor ist.

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                Und da lag sie, in dieser vollkommen gewöhnlichen Januarpost. Die Postkarte. Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen. Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die vier Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste.

                               Ephraïm

                               Emma

                               Noémie

                               Jacques

                Es waren die Vornamen ihrer Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier waren zwei Jahre vor der Geburt meiner Mutter deportiert worden. Sie waren 1942 in Auschwitz gestorben. Und einundsechzig Jahre später tauchten sie in unserem Briefkasten wieder auf. […] Meine Eltern stellten sich weiter Fragen. Mir selbst war die Postkarte völlig egal. Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen. Diese Menschen waren meine Vorfahren, und ich wusste nichts über sie. Ich wusste nicht, welche Länder sie bereist, welche Berufe sie ausgeübt hatten, wie alt sie waren, als sie ermordet wurden. Hätte man mir ihre Porträts gezeigt, hätte ich sie unter Fremden nicht wiedererkannt. Dafür schämte ich mich.

 

Quelle: Dieser Buchtipp stammt aus unserem SEKO Newsletter KW 27/2023 mit Buch- und Rundfunktipps für literarisch Interessierte und Neuigkeiten rund um SEKO. Zur Anmeldung geht es hier.